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Wie kann eine unikale Inkunabel „entdeckt“ werden, wenn sie Jahrhunderte im Bestand einer Bibliothek verbracht hat?
Dieser Artikel nimmt die Entdeckung einer Inkunabel aus der ULB Darmstadt zum Beispiel für die Frage nach der Vollständigkeit digitaler Nachweisinstrumente für Altbestände in Bibliotheken. Mögliche Gründe für die Unvollständigkeit der Nachweisinstrumente werden erläutert und Lösungsansätze im Hinblick auf Teilhabe illustriert.
Hintergrundinfos
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Inkunabel oder auch Wiegendruck bezeichnet einen der von 1454 – 1500 erschienen Drucke, die mithilfe Johannes Gutenbergs Buchdruckverfahren entstanden sind. Der Anfang 1454 ist festgelegt mit dem Erscheinungsjahr der Gutenberg-Bibel. Optisch ist eine Inkunabel nicht immer prächtig: Drucke waren teuer. Meistens besteht sie aus unauffälligem Schriftsatz. Es gibt auch reich dekorierte Exemplare wie die hier gezeigte Variante einer Gutenberg-Bibel aus der Staatsbibliothek zu Berlin.
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Gutenberg erfand um 1450 in Mainz den Buchdruck mit metallenen Lettern in Europa. Pro Buchstabe oder Zeichen einer Druckseite wird dabei eine aus Metall gegossene Form (Letter) genutzt. In einem Setzkasten bilden die Lettern zusammen eine Druckseite. Dabei sind schnellere Korrekturen und größere Auflagen möglich als beim Einsatz geschnitzter Druckstöcke aus Holz. Illustrierend kamen mitunter Techniken wie Holzschnitt, Kupferstich und Handmalerei zum Einsatz. Der erste bekannte Buchdruck mit mobilen metallenen Lettern fand allerdings 1377 in Korea mit dem Jikji statt.
Worum geht’s?
Im September 2022 wurde eine Inkunabel „neu entdeckt“. Das Kuriose daran: Inkunabeln werden seit Jahrhunderten erforscht. Es ist wirklich ungewöhnlich, dass einer dieser Drucke noch nie in einem der einschlägigen Nachweiswerke auftauchte. Das hier gefundene kleine Druckwerk war zudem längst als Bibliotheksbestand verzeichnet. Trotzdem wurde seine Besonderheit als Inkunabel über Jahrhunderte nicht identifiziert.
Warum blieb sie so lange unentdeckt?
Das ist doch eh schon alles digital!
Bei der unserer „neuen“ Inkunabel handelt es sich um einen kleinen Band mit der Signatur U 1350/5 aus der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt (ULB). Sie war lange Zeit nur über ihren Titel in einem Sonderbestands-Zettelkatalog verzeichnet.
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Der Datensatz im Online-Katalog entstand 2020 durch die Einspielung über ein sogenanntes Retrokon-Projekt. Das Verfahren erkläre ich hier nur stark vereinfacht. Bei der Einspielung fand keine Prüfung der Daten am physisch vorliegenden Werk (Autopsie) statt. Man hatte nicht „das Buch auf dem Tisch“, sondern fertigte Scans der Zettelkatalogkarten an. Anhand der gescannten Metadaten suchte ein externer Dienstleister in anderen Online-Katalogen einen möglichst übereinstimmenden Datensatz. Dieses Verfahren ist fehleranfällig, doch es führt zu schnellen Ergebnissen.
Ähnlich und doch nicht gleich
Im Falle unserer Inkunabel wurde ein Datensatz heran gezogen, der den Zettelkatalog-Metadaten nur ähnlich war. Dies kann gerade bei frühen Drucken passieren. Die Entwicklung von Titelblättern begann im 16. Jahrhundert erst und anfangs gab es noch keine Einheitlichkeit von Angaben wie Verfasser, Erscheinungsjahr und -ort sowie Drucker (bei alten Drucken ein wichtiges Identifikationsmerkmal). Auch bei unserer Inkunabel geht der Text „einfach so los“. Die Titelangaben verstecken sich in den ersten Sätzen „Interpretationes seu somnia Danielis prophete […]“, wie hier zu sehen.
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Die „Somnia Danielis“ sind über 400 auf verschiedene Drucke verteilte und dem biblischen Propheten Daniel zugeschriebene Traumdeutungen. Zu ihnen gehören viele Inkunabeln, die wiederum im Gesamtkatalog der Wiegendrucke verzeichnet sind. Die Entdeckung unserer Inkunabel war ein Zufallsfund durch eine Bestellung eines Forschers, der die im Katalog der ULB unter der Signatur U 1350/5 angegebene Druckvariante eines Textes der Somnia Danielis einsehen wollte. Tatsächlich brachte die Bestellung des Büchleins eine bisher unbekannte Druckvariante zutage.
Gefunden! Was tun?
Bei näherer Betrachtung stand fest: es musste sich um eine Inkunabel handeln. Reichliche Recherche in Nachweiswerken für Inkunabeln förderte keine anderen besitzenden Institutionen zutage. Die Entdeckung von 2022 wurde vom Team der Historischen Sammlungen an der ULB Darmstadt dem Gesamtkatalog der Wiegendrucke gemeldet, dort geprüft und unter der Nummer GW 0792250N neu aufgenommen. Damit hat sie es in die digitalen Nachweise geschafft. Bis heute ist sie dort unikal. Es gibt also keine andere Bibliothek mit genau diesem Wiegendruck – bis jemand vielleicht einen weiteren Fund macht.
Recherche gefällig? Altbestand finden!
KVK – Karlsruher Virtueller Katalog (für Bestände jeden Alters)
ISTC – Incunabula Short Title Catalogue (Inkunabeln international)
GW – Gesamtkatalog der Wiegendrucke (Inkunabelkatalog auf Deutsch)
INKA – Inkunabel-Katalog deutscher Bibliotheken (deutsche und österreichische Sammlungen)
VD16 – VD17 – VD18 – Verzeichnisse der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke vom 16. bis zum 18 Jahrhundert
Warum ist das so selten und doch möglich?
Wie eingangs erwähnt werden Inkunabeln seit Jahrhunderten erforscht und damit seit langem Nachweiswerke für Wiegendrucke aufgebaut und gepflegt. Ein solches ist der auf internationaler Ebene derzeit größte und seit 2003 frei zugängliche Inunabula Short Title Catalogue (ISTC) der British Library. Der ISTC bekommt von Inkunabelverzeichnissen weltweit Daten gemeldet. Und doch können Lücken zwischen Nachweisinstrument und echten Bestandsbedingungen klaffen.
Mögliche Gründe
Kein Fachpersonal
Der Bestand gehört zu einer kleinen Institution wie einer Klosterbibliothek ohne buchwissenschaftliches Fachpersonal und wurde noch nicht (komplett) von Forschenden durchleuchtet. In dem Fall besteht vielleicht kein Bewusstsein für den Wert der Bestände und es fehlt die Expertise zur Identifizierung der alten Bücher.
Personalknappheit
Mangel an Personal zwingt die Bibliothek dazu, den Fokus auf etwas anderes als die Verzeichnung ihrer Bestände in den digitalen Nachweiswerken zu legen. Sie melden also keine neuen Einträge oder Besitznachweise an diese Verzeichnisse.
Automatisierung vor Prüfung
Der Bestand der Bibliothek ist so groß, dass der Übergang von alten Katalogen in digitale Nachweise automatisiert geschah und noch nicht für jede Sondersammlung vom Fachpersonal geprüft wurde. Dies ist bei unserem Inkunabelfund an einer Bibliothek mit über 450 Jahren Geschichte der Fall. Die ULB Darmstadt entwickelte inzwischen ein Konzept zur zukzessiven Überprüfung alter Bestandsgruppen. Forschende rechnen möglicherweise nicht damit, bei einer so großen Institution noch Neues zu entdecken.
Forschungsdatenmanagement
Forschungsergebnisse wurden nicht systematisch aufbewahrt und in digitale Nachweiswerke überführt. Manchmal finden sich auf gedruckten Verzeichnissen handschriftliche Vermerke von ehemaligen Bibliotheksmitarbeitenden, die ihre eigenen Erkenntnisse oder die von Forschenden so notiert haben. Immer mehr Institutionen bemühen sich daher um ein nachhaltiges Forschungsdatenmanagement.
Diese Gründe können natürlich auch für die Datenpflege anderer Nachweisinstrumente gelten. Die British Library hat durch ihre lange Geschichte als Nationalbibliothek bspw. den grundsätzlichen Vorteil, die in ihrem Sammelgebiet erschienenen Werke relativ durchgängig erhalten zu haben. In Deutschland führten die früheren politischen Verhältnisse mit ihrer „Kleinstaaterei“ zu zahlreichen regionalen Sammelstellen. Oft waren die Privatbibliotheken von Grafen, Fürsten und Kirchen die einzig überdauernden Sammlungen für Altbestände. Daher entstanden Projekte wie die Verzeichnisse der deutschen Drucke für das 16. bis 18. Jahrhundtert (VD16, VD17, VD18) zur Erstellung einer retrospektiven Nationalbibliographie. An diesen Projekten sind jedoch nicht alle Institutionen mit Altbeständen beteiligt.
Teilhabe als Lösung
Heutige Bibliotheken und Forschende haben längst erkannt, dass die Zugänglichkeit zu den digitalen Nachweisinstrumenten im Open Access sowie die Einbindung von Institutionen mit geringeren finanziellen oder personellen Mitteln wichtige Faktoren für die Weiterentwicklung des Wissens über frühe Drucke sind. Auch die übersichtliche Aufbereitung von Informationen für die interessierte Öffentlichkeit trägt zu einem größeren Bewusstsein für den Wert alter Drucke bei und kann ein Feedback mit neuen Informationen aus der Allgemeinheit in die Fachwelt erwirken. Teilhabe hilft so bei einem nachhaltigen Aufbau eines Informationsnetzwerks für alte Drucke.
Konkrete Beispiele
The Atlas of Early Printing ist eines der Projekte, die auch Laien einen interaktiven Ansatz zur Entdeckung der Inkunabelgeschichte im europäischen Raum verschafft. Anhand einer interaktiven Karte kann man sich über einen individuell konfigurierbaren Zeitraum von 1450-1500 ansehen, an welchem Ort wann die ersten Drucke mit Gutenbergs Buchdruckverfahren entstanden sind. Das fogende Video erklärt die Entstehungsgeschichte dieses Projekts:
Der Blog „Les Essentiels“ der französischen Nationalbibliothek BnF (Bibliothèque nationale de France) stellt pädagogische Ressourcen der BnF für alle Interessierten zur Verfügung. Die Informationen bieten einen ersten Einstieg und kurzen Überblick. Somit kann man ein Basiswissen und Verständnis für diverse Themen aufbauen. Hier findet man z.B. einen Blogbeitrag über die Entwicklung des Titelblatts von alten Drucken bis heute.
In Thüringen startete 2018 das Projekt „Erschließung und Sicherung Nordthüringer Kirchenbibliotheken„. Es ist ein gutes Beispiel fürTeilhabe durch die Einbindung von über 80 kleinen, seit der Frühneuzeit bestehenden kirchlichen Bibliotheken in die Verzeichnung alter Drucke. Deren Bestände sind oft unsachgemäß gelagert und kaum verzeichnet, manchmal nur in Form jahrzehntealter Bücherlisten. Das Projekt stellt durch Fachpersonal Hilfe in Form von Erschließung und Archivierung der alten Kirchenbibliotheksbestände zur Verfügung und könnte später in ganz Deutschland fortgeführt werden. Ein ähnliches Projekt begann im Mai 2024 zur Erschließung von etwa 8.500 Bänden der historischen Sammlung der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums in Erfurt.
Abschließend kann man durchaus einen positiven Blick in die Zukunft der Auffindbarkeit historischer Bestände werfen. Die digitalen Nachweisinstrumente für Altbestände sind vielleicht noch unvollständig, doch sie werden stetig weiter entwickelt.